Grenzschmuggel und Versailler Vertrag
 

Dort, wo die deutsch-holländische Grenze die Straße Kaldenkirchen-Venlo schneidet, liegt ein platt und hart getretenes, papierüberdecktes Stück Ackerland, zu dem tagaus, tagein von jedem auf den Bahnhof Kaldenkirchen aus Gladbach oder Krefeld-Kempen ankommenden Zuge Hunderte von Menschen ziehen. Holländische Händler, das was man so in Kriegs- und Nachkriegszeit als Händler gelten zu lassen gelernt hat, schreien ihre Ware aus. In Säcken, Schachteln, Kisten, Körben oder Bündeln tragen sie diese Ware herbei: Tabak, Zigaretten, Kaffee, Tee, Wolle, Tuche, Seifen, Sacharin. Der Handel ist schnell erledigt, denn die Preise sind fest. Dann verschwindet die Ware auf offenem Felde in den Kleiderverstecken der deutschen Käufer. Intimitäten zeigen sich, von denen sich ein kultiviertes Auge mit Grauen wendet, und gerade die dem Körper am nächsten anliegenden Kleidungsstücke sind mit eingenähten Taschen gespickt; getreu dem Erfahrungsgrundsatz, daß dem Zollbeamten der Rock - bei den zu Untersuchenden - näher liegt als, na, sagen wir, das Hemd. Und die Frauen - meist solche, bei denen es sich nicht lohnt, zu fragen, was sich ziemt -, die sonst stets über Taschenmangel klagen, sind hier gegenüber den Männern die glücklicheren. Die holländischen Zollbeamten aber schauen, da kein Verbandsagent mehr neben ihnen steht, lächelnd dem Jahrmarktausfuhrhandel zu, der sich hier auf deutschem Boden, dreihundert Meter vom deutschen Grenzzollhause, abspielt. Das ist am Einzelfall erzählt, ein Tatbestand im heutigen deutsch-holländischen Grenzhandel, und dieser Einzelfall wird Markt um Markt ergänzt von Aachen längs der ganzen deutsch-holländischen Grenze bis zum Dollart; ein jeder Grenzstein kann unter Zollausschluß zum Ladentisch werden, wenn die Gelegenheit es gerade will. Wir Deutsche allein können es schwerlich hindern. Mit Recht weist die "Köln. Ztg." daraufhin, daß die Hauptquelle des Übels im Versailler Vertrag liegt. Der zuständige Delegierte der Interalliierten Rheinlandkommission führt Buch über jeden Mann und jeden Revolver, gleichviel ob er in der Hand eines regelrechten Zollbeamten oder einer Hilfskraft ruht. Über diese Zahl hinaus - die Zahl von 1913 - wird jeder neue Mann und jeder neue Waffenschein im Sinne des Versailler Spruchs verweigert, so daß die Zollbehörde mit ihren Kräften haushalten und Teile der Grenze entblößen muß, wenn sie andere Teile der Grenze stärker schützen will. Ja, ja der große, am schwersten ins Gewicht fallende Schmuggel, der Bandenschmuggel, der vor allem während der Nacht von gewalttätigen Gesellen betrieben wird, bedingt ferner, daß man den Tagesdienst zugunsten der Nachtaufsicht aufs notwendigste beschränken und manches Auge zudrücken muß. Gewiß, man könnte diesen oder jenen der geschilderten illegitimen Grenzmärkte glattweg erledigen, aber er würde sich an anderer, vielleicht schwerer zu übersehender Stelle wieder auftun und hat das auch erfahrungsgemäß schon getan. Diese aber nun wiederum zu überwachen, wäre man schon rein zahlenmäßig nicht stark genug; da sucht man lieber von den vorhandenen Märkten die größten Mißstände, die stärksten Auswüchse fernzuhalten, überwacht die besuchtesten Zugänge und sucht die besten Kunden der Märkte abzufassen und sie, wenn die Art des Schmuggelgutes es erheischt, dem Gericht zuzuführen. Schließlich wird es wieder dazu kommen, daß für den Grenzbezirk, genau wie im Kriege, Einreiseerlaubnisscheine ausgestellt werden - zum Schaden der Grenzbezirke, deren Bevölkerung ohnedies die Folgen des verlorenen Krieges in weit stärkerem Maße zu tragen hat als der rechtsrheinische Deutsche!

(Zeitungsbericht vom August 1923. Vollständige und unveränderte Übernahme vom Original)